Prokrastination – krankhaft oder normal?

Pathologisches Prokrastinieren 

Wenn Aufschieben im Leben und Handeln eines Menschen einen Umfang eingenommen hat, der für ihn selber oder sein soziales oder ökonomisches Umfeld schädlich und Quelle des Leidens wird, und wenn sich dieses Verhalten als beständig und nicht nachhaltig veränderbar erweist, sollte man von einem pathologischen (krankhaften) Prokrastinieren sprechen. Ein pathologisches, ggf. auch psychopathologisches Verhalten ist ein anormales, krankhaftes Verhalten, das die Funktionsfähigkeit eines Menschen dauerhaft beeinträchtigt. Krankheiten im Allgemeinen werden diagnostiziert und mit medizinischen bzw. therapeutischen Maßnahmen versorgt oder behandelt. Sie werden in internationalen Klassifikationen beschrieben und kodifiziert.

Prokrastination ist in den derzeit geltenden Versionen der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme der WHO (ICD-10) oder der DSM V (fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) nicht gelistet. Und dies trotz ihrer großen Verbreitung durch alle Altersstufen und sozialen Stände, und ihres körperlich, seelisch und existenziell schädigenden Potenzials in Bezug auf persönlichen Leidensdruck und Alltagsbewältigung. Hier benutzen wir den Begriff der „pathologischen“ Prokrastination, weil dies die Absicht beschreibt, das krankhafte, unkontrollierte, schädliche und bereits chronifizierte (lang andauernde) Aufschieben abzugrenzen gegenüber leichteren bzw. bewusst und selbst bestimmt gesteuerten Formen des Aufschiebens, das schließlich in das Handlungsrepertoire eines frei entscheidenden Individuums gehört.

Vergesellschaftete Störungs- bzw. Krankheitsbeschreibungen können fallweise ergänzend oder ersatzweise bzw. differenzialdiagnostisch herangezogen werden: Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung, Störung der Impulskontrolle, abnorme Gewohnheiten, neurotische Belastungs- und Affektstörungen (Angst-, Zwangs-, phobische oder depressive Störungen).

Prokrastination wird in den populären Kommunikationsmedien beinahe regelmäßig thematisiert und dann mehr oder weniger fachkundig und fantasievoll diskutiert und bleibt dabei doch, trotz vielfältiger, auch internationaler Veröffentlichungen, vor allem in ihrer chronifizierten Form eine systematisch unerforschte Krankheit.

Gelegentlich wird sie wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Antriebsschwäche leider ungeprüft und oft zu Unrecht in die Nähe zu Faulheit und Bequemlichkeit gerückt. Einhergehen kann sie auch mit Depression oder Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit oder ohne Hyperaktivität, auch mit diversen somatischen Begleiterscheinungen aus dem Formenkreis der Zwangserkrankungen. Da im Moment einer (bewusst oder unbewusst getroffenen) Entscheidung zum Aufschieben einer unbequemen Erledigung unmittelbar das Belohnungszentrum*) des Gehirns aktiviert wird, darf auch eine gewisse Gemeinsamkeit mit einem pseudo-süchtigen Verhalten nicht übersehen werden.

*) Im dopaminvermittelten Belohnungssystem spielen das Striatum (gehört zu den Basalganglien, koordiniert Emotionen, Kognition und Bewegungsabläufe), speziell das dopaminreiche ventrale Striatum, der Nucleus accumbens (gehört zum Striatum, Funktion in emotionalen Lernprozessen) und der ventrale Tegmentalbereich des Hirnstamms besondere Rollen. Auch andere Regionen wie die Amygdala, das periaquaeduktale Grau und andere Bereiche in den thalamischen, hypothalamischen und subthalamischen (Pallidum) Regionen sind beteiligt.

Diagnostiziert wird eine (verniedlichend so genannte) „Aufschieberitis“ meist von den Betroffenen selbst oder ihrem Umfeld aufgrund der Eigenbeobachtung. Wobei sowohl Art und Ausmaß des Aufschiebens beschrieben werden als auch seine Konsequenzen in Form eines gefühlten, drohenden oder bereits eingetretenen Folgeschadens.

Diagnostische Kriterien

  • Anhaltende Schwierigkeit, Erledigungen zu beginnen, durchzuführen und/oder zu beenden.
  • Leichte Ablenkbarkeit, schwache Impulskontrolle, Ziellosigkeit.
  • Die Schwierigkeit ist verbunden mit oder ausgelöst von einem Gefühl des Unwohlseins oder unüberwindbaren Widerstands, oder mit keinerlei bewusster Kenntnis hiervon.
  • Die erzeugten Ergebnisse sind oft verspätet, unvollständig und im Ergebnis eher suboptimal.
  • Aufschieben bei einer bestimmten Aufgabenstellung, oder lang bis lebenslang erlebtes Aufschieben.
  • Aufschiebeaktionen werden nicht mehr bewusst wahrgenommen („Aufschiebetrance“).
  • Versiegende Nachhaltigkeit von „life-hacks“ (Anlegen von To-Do-Listen, Methoden des Zeitmanagements etc.).
  • Langfristige Unzufriedenheit, Leiden oder Beeinträchtigungen in seelischer, körperlicher, sozialer oder beruflicher Hinsicht.
  • Verhalten ähnlich der Süchtigkeit (stressinduzierter Druckaufbau, gefolgt von lustvoller Entlastung).
  • Irrationales Verleugnen der Realität.
  • Wachsendes Angst-, Scham– und Schuldgefühl.
  • Regelmäßiges Verbergen oder Verleugnen des aufschiebenden Verhaltens gegenüber Dritten.
  • Das pathologische Aufschieben ist nicht auf andere medizinische Erkrankungen zurückzuführen (z.B. Gehirnverletzungen, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Intelligenzminderung etc.) zurückzuführen. Dieses Aufschieben kann nicht besser durch die Symptome oder Folgen einer anderen psychischen oder lebensbedingten Erkrankung oder Störung erklärt werden (z.B. Zwangsgedanken, verminderter Antrieb bei einer Major Depression, Wahnvorstellungen bei Schizophrenie oder bei anderen psychotischen Störungen, kognitive Defizite bei einer neurokognitiven Störung, eingeschränkte Interessen bei einer Autismus-Störung etc.).

Eine differenzialdiagnostische Abklärung, vor allem bei einem auffälligen → LEDZ GO!©-Scan, sollte im Zweifel Klarheit verschaffen.

Pathologisches Horten*)

Eng verbunden mit dem Prokrastinieren ist das Horten, das grenzenlose Festhalten, das sich nicht nur auf Gegenstände bezieht, sondern durchaus auch auf Ideen, Gedanken oder Vorstellungen, und nicht nur auf Bestehendes, sondern auch scheinbar längst Erledigtes erstrecken kann.

Diese angesammelten Bastionen und scheinbar unverzichtbaren Ankerpunkte einer am Leben unsicher gewordenen Seele können sehr nachhaltig die persönliche Weiterentwicklung blockieren  sind sie doch selber schon aus solchen Blockaden entstanden.

Die Welt der Vorhaben, der Dinge und ihrer Stellvertreter

Nicht alles kann zur gewünschten Zeit erledigt und zur Tat werden. Angedachtes und Angefangenes bleibt liegen, und wenn es nicht aufgegeben wird, werden die „Bauruinen“ zu Statthalter der alten Projekte. Sie sind dann ständige Mahnmale der damaligen Enttäuschungen, und können einem das Leben schwer machen – und das der Lieben drumherum.

Diese angehäuften Dinge und Pläne sind auf ihre Weise Zombies, die eine Macht über ihre Träger gewonnen haben, die ihnen nicht zusteht. Es ist wichtig, dass diesen „Untoten“ endlich ihre Ruhe gegeben wird – auch für die Lebenden.

Therapeutische Maßnahmen

Als Therapie bieten sich neben einer Klärung und Korrektur jener Bereiche an, in denen sich der scheinbar unüberwindbare Drang zum Aufschieben manifestiert, eine kognitive Neuorientierung und ein verhaltenstherapeutisches Vorgehen an. Auch emotionsbezogene psychotherapeutische und kurzzeittherapeutische Maßnahmen bringen Verbesserung. In unserem pro-cras-Konzept (→ LEDZ GO!©-Scan) überprüfen wir die typischen Auslösekriterien („Prokrastinations-Trigger“). Sie zeigen an, ob Veränderungen eher auf einem psychiatrisch therapeutischen oder einem psychologischen, d.h. handlungs-, realitäts- und praxisbezogenen Weg anzustreben sind.

Die Befreiung von unnötigen Blockaden und Festhalteritualen rückt umso mehr in den Bereich des Möglichen, wie die Quellen und Ursachen solcher ehemals schützender Strategien erst einmal verstanden werden.

Ganz anders, aber auch in besonderer Weise kann die Ausübung von → Yoga oder anderen körperbezogenen, konzentrationsfördernden und meditativen Techniken als eine sinnvolle, ergänzende Therapiemaßnahme bei psychischen Erkrankungen insgesamt angesehen werden.

Coaching als handlungs-, realitäts- und praxisbezogene Veränderungsmethode

Auch bei pathologischer Prokrastination sind mit einem spezifischen, fach- und sachbezogenen Coaching deutliche und nachhaltige Verbesserungserfolge zu erzielen. Auch einem solchen Coaching wird sinnvollerweise eine gründliche Anamnese und Analyse des vorgetragenen Aufschiebegeschehens vorangehen (→ LEDZ GO!©-Scan). Je nach Art und Ursprung der Aufschiebegewohnheit kann dabei das systemische Arbeiten, das Arbeiten, mit dem inneren Kind und dem Ego-State, mit Glaubenssätzen, mit EMDR und dem Zürcher Ressourcenmodell, und allen Formen der Persönlichkeitsentwicklung zur Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit zielführend sein. Eine Unterstützung der allgemeinen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung, zur altersgerechten Lernerfahrung und Weiterentwicklung ist dabei immer ein Teil solchen Coachings.

Nicht krankhaft und trotzdem behandlungswürdig

Eine grundlegende Tendenz zum spontanen Aufschieben kann als wiederkehrendes soziales Handlungsmuster bei Menschen angelegt sein und ihre Persönlichkeit charakterisieren, ohne dass dies eine neurotische Störung bedeutet. Vielmehr ist hier eine früh angelegte Persönlichkeitsstruktur erkennbar, die zwar nicht zur „Heilung“ ansteht, für die aber eine problemspezifische Behandlung und Besserung sinnvoll und möglich ist.

Weitere Informationen unter: Tel. mobil 01520 9887966, Tel. fix 0211 9991656, info@pro-cras.de